Entwurf Herbstsemester 2022

Profile der Alpen:
Landschaft, Landscape, Paysage – Talschaft

Entwurf HS22: Profile der Landschaft. Talschaft: Gletsch, Rhônegletscher, Belvédère, Furkapass um 1925 / Quelle: Mittelholzer Walter; ETH-Bibliothek Zürich; Bildarchiv/Stiftung Luftbild Schweiz
Betrachtungsgebiet Entwurfssemester HS22 / Quelle: Professur Günther Vogt

Die alpine Landschaft verändert sich in beschleunigter Form. Kontrastiert wird diese Entwicklung von einer rudimentären Beschreibung des Raums als Grundlage für die aktuelle Planung. Vor diesem Hintergrund plädieren wir für eine umfassende und feingliedrige Profilierung der Alpen als Ausgangslage für den Entwurf neuer Landschaften. Dies unter der Prämisse der Erzeugung maximaler Differenz.

Während im ersten Teil des Semesters unsere Aufmerksamkeit der Artikulation der Profile sowie der Herausbildung einer möglichen Gesamtkonfiguration gilt (wir konzentrieren uns dabei auf den Gebirgsraum zwischen Saint-Maurice und dem Grimselpass), arbeiten wir im zweiten Teil der Auseinandersetzung an konkreten Entwürfen. Dabei geht es um die Weiterentwicklung und die Übersetzung der in den Profilen angelegten Entwicklungsspuren. Die Vorschläge sollen sich dabei in anschaulichen Bildern manifestieren, wobei es um die bewusste und aktive Schaffung neuer Bilder gehen soll und nicht um die Reproduktion tradierter Vorstellungen. Dem entwerferischen Bild kommt dabei eine doppelte Bedeutung zu: Es ist einerseits der Versuch, eine zentrierte Vorstellung möglicher Gebrauchs- und Wahrnehmungsebenen zu einer Synthese zu bündeln. Andererseits ist das Bild aber auch die ikonografische Fassung jener Vision, die eine Gesellschaft zum kollektiven Handeln im Raum verführen soll.

Medien

Artikel von Catherine Duttweiler im Tages Anzeiger Magazin vom 30. Juni 2023 (Paywall)
Karte zum obigen Artikel im Tages Anzeiger Magazin: Die Zukunft der Alpen bzw. Wie wir die Alpen retten

Organisation

Co-teaching: Günther Vogt & Thomas Kissling
Wissenschaftliche Begleitung: Markus Ritter & Rolf Weingartner
Assistenz: Fabiana Frisullo, David Jung, Andreas Klein
Kontakt: Andreas Klein, andreas.klein@arch.ethz.ch
Ort: HIL G64
Entwurf V-IX: 052-1143-22L (14 KP)
Einzel- und Gruppenarbeit, wovon min. 5 Wochen Gruppenarbeit

Einführung: 20.9.22, 9:00 Uhr, Ort: Case Studio Vogt (Stampfenbachstr. 59, 8006 Zürich)
Debatten: 28.9., 5.10., 12.10.
Zwischenkritiken: 19.10., 15./16.11., 6./7.12.
Schlusskritiken: 20./21.12.

Der Field Trip findet vom 24.09.22 bis 25.09.22 statt (Abreise: Samstagmorgen ab Zürich HB, Rückreise: Sonntagabend, Zürich HB an ca. 20:00 Uhr). Der Unkostenbeitrag beträgt 150 CHF.

Archiv

Profile der Alpen

Der Alpenraum befindet sich im Zuge der Klimaveränderung in einer beschleunigten Metamorphose. Die einstige Vorstellung der physisch und ideell stabilen Alpen löst sich kontinuierlich auf und wandelt sich zu einem Bild, das die Fragilität des Gebirges auf eindrückliche Weise offenbart. Gleichzeitig gewinnt die Makroregion Alpen, welche die angrenzenden Metropolitanräume miteinschliesst, als Ressourcenraum für die Anrainer:innen zunehmend an Bedeutung. Erneuerbare Energien, Frischwasser, biologische Ressourcen, Schutz vor Naturgefahren,1 die Aussicht auf Sommerfrische oder die in den nächsten Jahrzehnten durch den Gletscherrückzug entstehenden neuen Landschaften mit potenziell 683 natürlichen Seen2 wecken zahlreiche Begehrlichkeiten. Die heute bereits existierenden Interessens- und Nutzungskonflikte dürften sich also im Zuge dieser Entwicklung nicht nur häufen, sondern zukünftig in zugespitzter Form artikulieren.

Indes leisten die verfügbaren Grundlagen einer übergeordneten Planungssichtweise, wie das Raumkonzept Schweiz, das die Alpen in drei Handlungsräume gliedert, oder das städtebauliche Portrait der Schweiz, das die Lesart des Landes als urbanisiertes Territorium vorschlägt, lediglich rudimentäre Beschreibungen des Alpenraums. Sie sind geprägt von der Vorstellung einer heterotopen Raumaufteilung. Was Urbanität nicht zu umgreifen vermag, wird als «Brache» gleichsam in die Wildnis zurückgestossen. Der Nachteil dieses dualen Systems liegt in seiner grossen Unschärfe. Zwischen den urbanen Zentren einerseits und der «Wildnis» andererseits klaffen noch in üppiger Flächenausdehnung die Zwischenräume.3 Daraus resultiert die paradoxe Situation, dass konkrete Vorhaben jeweils am Einzelfall mit einer dichotomen Vorstellung verhandelt werden, ohne die unterschiedlichen Nutz- und Schutzinteressen unter Berücksichtigung grossräumiger Abhängigkeiten differenziert abzuwägen.

Vor diesem Hintergrund plädieren wir für eine übergeordnete Betrachtung auf der Basis sorgfältig orchestrierter Landschaftsprofile. Ein Profil benennt die charakteristischen Eigenarten und Phänomene einer konkreten Landschaft, setzt diese in Beziehung und gewichtet. Auf diese Weise wird, immer im Kontext einer Gesamtkonfiguration betrachtet, eine Art «Substrat» für eine mögliche Entwicklung an die Oberfläche befördert. Der Priorisierung spezifischer Nutzungen (z.B. Tourismus, Erosion, Energieproduktion) ist dabei besondere Beachtung zu schenken, wobei hybride Konstellationen (also z.B. Energieproduktion und Tourismus) in expliziter Form zu untersuchen sind. Das Profil beschreibt also nicht nur was ist, sondern umreisst vor allem auch, was sein kann. Somit ist das Profil gleichermassen als Fluchtpunkt der am Ort gebundenen Energien zu verstehen, bei dem anders als im klassischen Zonenplan Gebrauch, Form und Wahrnehmung des Raums eine unentflechtbare Einheit eingehen.

Im Alpenraum ist «das Andere» nachbarschaftlich omnipräsent, das Nebeneinander geprägt von der Topographie. Unsere Betrachtungen folgen der Erkenntnis, dass die ausgesprochene Kleinräumigkeit, wie sie beispielsweise in Talschaften ihren Ausdruck findet, ein kennzeichnendes Merkmal der Alpen darstellt. Damit sind nicht nur die naturräumlichen Gegebenheiten gemeint, sondern auch die sozioökonomischen Verhältnisse. Hier mischen sich die massgebenden Merkmale wie Sprache, Konfession, Armut oder Wohlstand sowie Land- und Stadtorte. Der Cluster einer solche Mischung wirkt dabei identitätsstiftend für Gemeinschaften. Die beschleunigte Erzeugung von Differenz ist also das erklärte Ziel, denn Differenz wirkt stabilisierend – Vielfalt statt Einheit.4

Bibliography

1 Paul Messerli, Vom Alpenbild zur Alpenpolitik von Werner Bätzing, in: Tobias Chilla (Hrsg.), Leben in den Alpen. Verstädterung, Entsiedlung und neue Aufwertungen, Bern, 2014, S. 259-269.

2 Tim Steffen, Matthias Huss, Rebekka Estermann, Elias Hodel, Daniel Farinotti, Volume, evolution, and sedimentation of future glacier lakes in Switzerland over the 21st century, in: Earth Surface Dynamics, 10, 2022, S. 723-741.

3, 4 Markus Ritter, Alpendynamik sehen – beim Spazierengehen, in: Thomas Kissling (Hrsg.), Fest, flüssig, biotisch. Alpine Landschaften im Wandel, Zürich, 2021, S. 18-33.